Ich war heute Vormittag bei einer sehr würdigen, beeindruckenden Gedenkveranstaltung, die mich tief bewegt. Morgen am 27. Jänner jährt sich die Befreiung des KZ Auschwitz zum 80. Mal. Auschwitz wurde zum Synonym für den Holocaust, den Terror der Nazis, für den Zivilisationsbruch der NS-Zeit. Deshalb begehen wir auch jedes Jahr im Gedenken und im Bewusstsein des Versprechens „Nie wieder” diesen Tag. In Wels zum Beispiel mit der Veranstaltung „Klang Zeichen setzen”. Der A Capella Chor Wels hat Werke zweier österreichischer Komponisten, die aufgrund ihres Glaubens von den Nazis verfolgt wurden, vorgetragen. Dazu gab es Einblicke in deren Leben durch die Musikwissenschafterin Dr.in Karin Wagner. Die passenden Worte zum morgigen Gedenktag fand der ehemalige Abgeordnete zum Nationalrat der Grünen Dr. Harald Walser.
Sowohl die Einblicke in das Leben der beiden Komponisten Hugo Kauder und Erich Zeisl, als auch die Vorträge des Chors und auch die Worte von Harald waren tief bewegend und gut gewählt. Ein Satz ist mir dabei hängen geblieben: „Wir haben zu wenig darüber geredet, wir haben zu wenig gefragt.” Ein Satz, der das Dilemma der Aufarbeitung und des Annehmens der Verantwortung Österreichs für das, was im NS-Staat geschah, auf den Punkt bringt. Zu gerne haben wir uns als offizielles Österreich ebenso wie als Nachkriegsgesellschaft als erstes Opfer des Nationalsozialismus geriert. Die Moskauer Deklaration von 1943 wurde entsprechend vorne weg getragen, sollte darüber hinwegtäuschen, dass unter den Täter:innen nicht wenige so genannte „Ostmärker” waren, dass wir damals 1938 nicht gewaltsam besetzt wurden, sondern jubelnd in Linz und Wien Hitler begrüßten. Auch das ist Teil unserer Geschichte, kein angenehmer Teil. Und wir haben es uns jahrzehntelang zurechtgebogen. Nicht umsonst hat die Erklärung von Vranitzky 1991 eine Zäsur bedeutet, war es doch das erste Mal, dass sich das offizielle Österreich auch zu den Gräueln und der Verantwortung für diese bekannte.
Der Satz mit den zu wenigen Fragen hat mich aber auch an meine eigene Kindheit und Jugend erinnert. Ich war immer sehr geschichtsinteressiert. Es gibt die Anekdote, wonach ich als 4-jähriger Stöpsel in der Wohnung meiner Oma zum Radio immer wieder gerannt bin, weil ich wissen wollte, ob denn „der Tito noch lebt”. Der jugoslawische Diktator lag zu dem Zeitpunkt damals im Sterben, und das interessierte mich. Natürlich hatte ich keinen Bezug dazu, aber es interessierte mich, was in dieser Welt denn so alles passiert. Ebenso wie mich die Geschichten meiner Oma aus der Zeit des 2. Weltkriegs später interessierten. Über ihre Zeit beim BDM (Bund deutscher Mädchen), den als „Narrischen” verschrienen Onkel von ihr, der als illegaler Nazi immer wieder überdimensionale Hakenkreuze in Wiesen in der Nacht brannte, die man kilometerweit im Salzkammergut sehen konnte. Auch die Geschichten meiner Großonkel, von denen einer im Kaukasus gefallen ist und der andere von der SS zum Ende des Kriegs rekrutiert wurde, waren spannend und interessant. Und so viel ich auch von meiner Großmutter dazu erfuhr, von meinem Opa hörte ich nie etwas dazu. Im Gegenteil – und das fiel mir erst Jahre später auf – erzählte meine Oma immer nur dann, wenn mein Großvater nicht dabei war. Mein Großvater war da nie sehr gesprächig, im Gegenteil.
Ein erster Hinweis für mich, warum das so war, war der Tag, an dem ich sein „Kriegsfotoalbum” fand. Ein schneidiger junger Mann, in der Uniform der SS im Jahr 1938 war darin zu sehen. Und Bilder vom „Polenfeldzug” und dann „Frankreich am Atlantik”, wo er lange stationiert war. Als mein Großvater 1989 starb, war das Album recht schnell weg. Jahre später fragte ich danach, aber da war es schon weg. Meine Großmutter meinte, dass sie es weggeschmissen hat.
Mich hat das Bild von meinem Großvater in der Uniform einer verbrecherischen Organsiation zu einem Zeitpunkt, als die Verpflichtung jedenfalls freiwillig erfolgte, nicht mehr losgelassen. Vor ein paar Jahren wollte ich daher nochmals nachforschen, und habe dazu ein paar persönliche Daten erfragt, und da hat sich dann auch herausgestellt, dass mein Opa nach dem Krieg in Glasenbach bei Salzburg interniert war, ein Anzeichen dafür, dass er dort wegen seiner Mitgliedschaft bei der SS inhaftiert war. Natürlich hat das alles am Ende nur bedingte Aussagekraft, natürlich kann es auch alles eine Verkettung von Zufällen und Umständen sein. Es kann aber auch sein, dass mein Opa nicht nur ein Teil des NS-Systems war, sondern ein aktiverer Teil als mir Recht ist. Aber ich weiß es nicht, und ich kann es heute nicht klar sagen, weil ich zwar die vielen Geschichten meiner Oma über die Zeit des 2. Weltkriegs kenne, aber nicht die Geschichte meines Großvaters. Der wollte nicht drüber reden, und ich habe auch nicht nachgefragt. Mich hätte interessiert, wie er zur SS gekommen ist. Mich hätte interessiert, was er während des zweiten Weltkriegs tat, wie er diese Zeit im Nachhinein sieht. Mich hätte interessiert, wie er den Übergang vom NS-Staat zur Demokratie und zur 2. Republik wahrnahm. Mich hätte vieles interessiert, auch um es besser zu verstehen. So aber bleibt nur das Gefühl, nichts zu wissen. Leider. Also nehme ich mir einmal mehr vor, endlich zu schauen, ob ich an die Personalakte meines Großvaters im Bundesarchiv in Berlin herankomme. Vielleicht bekomme ich so einen Eindruck dessen, was sich hinter dem offenkundigen Schweigen verbirgt.
In Anlehnung an Max Mannheimer möchte ich abschließend noch einige Gedanken zur Verantwortung, die wir heute tragen, hinzufügen. Mannheimer, selbst Überlebender des Holocaust, betonte stets: “Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.” Diese Worte verdeutlichen unsere heutige Aufgabe: Wir müssen die Erinnerung wachhalten, nicht um Schuld zuzuweisen, sondern um zu lernen und zu verhindern, dass sich die Schrecken der Vergangenheit wiederholen.
Unsere Verantwortung besteht darin, aktiv gegen jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz einzutreten. Wir müssen die Geschichten der Überlebenden weitertragen, gerade jetzt, wo immer weniger Zeitzeugen unter uns sind. Es liegt an uns, kritisch zu hinterfragen, wachsam zu bleiben und für eine offene, demokratische Gesellschaft einzustehen.
Gleichzeitig müssen wir den Mut haben, in unseren eigenen Familien nachzufragen, die unbequemen Fragen zu stellen, die vielleicht zu lange unausgesprochen blieben. Nur so können wir die Vergangenheit wirklich verstehen und aus ihr lernen. Diese persönliche Auseinandersetzung, wie ich sie mit der Geschichte meines Großvaters suche, ist ein wichtiger Teil unserer kollektiven Verantwortung.
Letztlich geht es darum, die Lehren aus der Geschichte in die Gegenwart und Zukunft zu tragen. Wir müssen uns aktiv für Menschenrechte und Demokratie einsetzen, Zivilcourage zeigen und eine Gesellschaft gestalten, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis basiert. Das ist unsere Verantwortung heute – eine Verantwortung, die wir alle teilen und die wir an künftige Generationen weitergeben müssen. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir eines Tages wieder zu wenig geredet und zu wenig nachgefragt haben.
Mein Vater war auch fast zwei Jahre wegen seiner SS-Anwärterschaft in Glasenbach inhaftiert. Auch er war zuerst an der französischen Atlantikküste stationiert. Dann war er zweimal an der Ostfront in Russland. Dazwischen lag eine schwere Verwundung.
Wie war es bei Dir? Habt ihr in der Familie drüber reden können bzw. welche Informationen hast du von deinem Vater zur NS-Zeit bekommen?