Das Wort „Usance“ hat gute Chancen „Unwort“ des Jahres 2024 zu werden. Das sage nicht ich, das sagen ganz viele bekannte und weniger bekannte Personen im Mikrokosmos von X – ehemals Twitter. Und dort auf eben diesem X (oder halt Twitter) erklären mir ebenso viele andere – meist sehr unbekannte – Profile, wie undemokratisch und hetzerisch es nicht ist, wenn man eine andere Haltung oder Meinung als die FPÖ einnimmt, und Usancen nicht als abzuarbeitende Aufgaben ohne Wenn und Aber versteht, sondern als das was sie sind: Gepflogenheiten oder von mir aus auch Bräuche.
Um was geht´s? Der österreichische Nationalrat hat sich am 24.10.2024 nach der Wahl neu konstituiert, die 28. Gesetzgebungsperiode hat begonnen. Zur Konstituierung gehört neben der Angelobung von uns Abgeordneten auch die Wahl des Präsidiums des Nationalrats. Der oder die Nationalratspräsident:in hat dabei eine zentrale und mächtige Position. Sie oder er kann nicht abgewählt werden, nimmt aber formal die zweithöchste Funktion im Staat nach dem Bundespräsidenten ein. Erinnern wir uns an das Bundespräsidentschafts-Interregnum nach der Aufhebung des Wahlergebnis der Stichwahl zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen, da war dann die damals amtierende Nationalratspräsidentin formal mit den Aufgaben des Bundespräsidenten betraut. Doris Bures hat diese Funktion mit ihren beiden Kollegen von ÖVP und FPÖ gemeinschaftlich wahrgenommen, aber formell (wenn ich das noch richtig im Kopf habe), war sie betraut.
Bei der Wahl am 29. September hat die FPÖ eindeutig die meisten Stimmen bekommen. Es ist daher an der FPÖ einen Vorschlag für einen Präsidenten oder eine Präsidentin des Nationalrats zu benennen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das bedeutet nicht, dass wir als Abgeordnete dazu gezwungen sind ihn oder sie zu wählen, es ist dies nicht unsere Aufgabe. Wir wurden ja nicht als Erfüllungsgehilfen gewählt, und es gibt auch kein Mehrheitswahlrecht, das automatisch uns dazu macht. Im Gegenteil benutze ich meinen Verstand und meine Haltung, meinen politischen Kompass, und schaue mir an, wen die FPÖ als Partei mit den meisten Mandaten im Haus zur Wahl aufstellt.
Und das ist halt nun einmal keine untadelige Person, wie ich finde. Aber die bräuchte es für meine Zustimmung. Walter Rosenkranz ist schlagender deutschnationaler Burschenschafter. Er ist Teil einer Vereinigung, die bereits 1878, also 18 Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1860, einen so genannten „Arierparagraphen“ einführte. Eine Bestimmung, die es jüdischen Studenten (nachdem nur Männer zugelassen sind, brauche ich auch keine gegenderte Form) untersagte Mitglied zu werden, weil sie eben jüdischen Glaubens sind. Woher diese Haltung kommt und wohin diese unseren Kontinent im Allgemeinen, unser Land im Speziellen brachte, muss ich hoffentlich hier nicht weiter ausführen. Es ist daher auch bezeichnend, dass viele Täter des NS-Terrorstaats Mitglieder in deutschnationalen Burschenschaften waren. Ebenso bezeichnend ist es, dass sich diese bis heute nicht von ihren Tätern distanzieren, sondern diese immer noch ehren und feiern. Laut einem Artikel von Der Standard hängt in der Bude der Burschenschaft dann auch ein Bild von Georg von Schönerer, einem radikalen Antisemiten und Vorbild Adolf Hitlers. Es wundert dann auch nicht, wenn Rosenkranz über den NS-Staatsanwalt und Mitglied seiner Burschenschaft Libertas Johann Stich meint, dass dieser ja ein „Leistungsträger“ gewesen sei. 44 Todesurteile in Krems, 17 in Wien, viele ohne anständiges Verfahren und gegen Widerstandskämpfer:innen sind also eine Leistung, lieber Herr Rosenkranz?
Und dann sind da noch die Identitären. Diese Hipsterrechtsextremen, die sich so gern als jung und frisch und fast ein bisserl modisch geben, und so versuchen ihre menschenverachtende Ideologie unter die Leute zu bringen. Die werden von Rosenkranz als „erfrischend“ kategorisiert. Keine Abgrenzung zu Sellner und Co, keine Abgrenzung zu den Abschiebe- und Deportationsphantasien beim neuen Präsidenten des Nationalrats. Im Gegenteil hofiert er diesen Verein auch noch. Es ist nicht nötig zu erwähnen, dass es auch keine Berührungsängste zur Schwurblerszene samt deren Verstrickungen in den Rechtsextremismus gibt. Rosenkranz war ja unter anderem Festredner beim 90. so genannten Spaziergang in Steyr. Es handelt sich hier nicht um harmloses Sonntagsvergnügen, sondern um regelmäßige Demos gegen eh alles und jeden samt einer großen Prise Verschwörungsnarrativen. Da wird dann nicht nur dem Covid-Geschwurble gefrönt, sondern auch mal der menschgemachte Klimawandel geleugnet. Entsprechend ist es auch müßig zu erwähnen, dass Rosenkranz keine Probleme mit den selbst ernannten „alternativen Medien“ hat, sie wohl mehr oder weniger Propagandisten der FPÖ und diverser Schwurbelparteien sind, als ernst zu nehmende und dem journalistischen Ethos verschriebene Medien. Aber das wirkt angesichts der oben erwähnten Fakten fast nur noch wie ein Nebenaspekt.
Was wieder interessanter ist: Rosenkranz war in den letzten 5 Jahren Volksanwalt. Da war er unter anderem auch für den Bereich Asylrecht zuständig, wo er eher „Dienst nach Vorschrift“ zum Credo erhoben hat. Ganz anders, wenn es um mögliche schlechtere Benotungen von Diplom- oder Bachelorarbeiten wegen der Weigerung geschlechtergerechte Schreibweise zur Anwendung zu bringen, ging. Ein Schelm, wer da Böses denkt.
Die offensichtliche Gedankenwelt von Rosenkranz will ich hier nicht mehr weiter ausführen, wer sich genauer damit beschäftigen will, braucht sich nur die entsprechenden Medienberichterstattungen zu Gemüte führen. Aber: so jemanden sollen wir also aus Sicht der FPÖ und ihrer Fans wählen. Sozusagen, weil es Usance ist, dass der Posten der stimmenstärksten Partei zusteht. Nein, das tut er schlicht nicht. Es steht ihnen zu, dass sie nominieren. Aber es ist meine Entscheidung als freier Abgeordneter, ob ich jemanden wie Rosenkranz meine Stimme gebe. Ich habe das nicht getan, weil ich einem Rechtsextremen keine Zustimmung geben kann, schon gar nicht wenn es um das zweithöchste Amt im Staat geht. Dafür gibt es keinen Grund, das steht auch in keinem Zusammenhang mit einer demokratiepolitischen Frage, die halt die FPÖ versucht zu konstruieren. Und nein, 28,8% der Stimmen bei einer Wahl bedeuten nicht, dass eine Partei alleine bestimmt, wie Posten gewählt werden müssen. Im Gegenteil ist das Verlangen, dass wir einer angeblichen „Usance“ folgen sollen, und wider unserer Haltung Rosenkranz wählen sollen, extrem bedenklich und sehr wohl demokratiefeindlich.
Ich habe Rosenkranz nicht gewählt, und ich werde es auch niemals tun. Ebenso haben 83 andere Abgeordnete ihn nicht gewählt, 57 davon haben auch keinen anderen Abgeordneten der FPÖ gewählt. Das ist natürlich nicht Nichts, aber es ist auch zu wenig. Es ist zu wenig angesichts der erdrückenden Faktenlage zu Rosenkranz und seiner Partei. Es ist auch zu wenig angesichts des Umstandes, dass die Usance sich nur auf den Nominierungsprozess bezieht, nicht auf die Wahl. Was zudem dem Grundgedanken einer Wahl komplett widerspricht. Für diese meine Haltung, die ich hier wie ich finde ganz gut und nachvollziehbar darlege, bin ich in den letzten Tagen massiv beschimpft und angegangen worden. Von Hardcore-FPÖ-Fans, von Verschwörungserzählern, von offen rechtsradikalen Fanboys und -girls. Auch daher ist es schade, dass zusätzlich zu den 57 FPÖ-Abgeordneten 43 Abgeordnete aus anderen Fraktionen meinten, ein Mitglied einer rechtsextremen Partei zu wählen. Die kommenden Jahre werden also anstrengend, in mehrfacher Hinsicht. Und das motiviert dann doch auch. Weil wir ja nicht für einfache Jobs gewählt wurden.