In den letzten Tagen (04.04.2022 bis 07.04.2022) war ich in Österreich unterwegs. Von Vorarlberg über Tirol weiter nach Salzburg und dann nach Kärnten bis in die Steiermark. Ich habe mich mit gesundheitspolitischen Playern in den Ländern getroffen, mit verschiedenen Professionen und natürlich mit meinen Kolleg:innen in den Landtagen, die das Thema Gesundheit bzw. Pflege verantworten. Während meiner kleinen Österreichtour ging der Vize-Obmann der ÖGK (Österreichische Gesundheitskasse) mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit, der auf den ersten Blick gar nicht so blöd ausschaut. Warum er trotzdem nichts zum Guten verändern würde, möchte ich hier kurz abreißen.
Konkret meinte Andreas Huss, dass es, doch gescheit wäre die Wahlärzt:innen abzuschaffen. Dann gäbe es nur noch entweder Ärzt:innen mit Kassenvertrag, oder eben welche ohne, also Privatärzte. So wie das auch in Deutschland der Fall ist. Derzeit ist es so, dass Ärzt:innen, die keinen Kassenvertrag haben als Wahlärzt:innen arbeiten können. Sie verrechnen ihr Honorar den Patient:innen direkt, diese können dann die Rechnungen bei der jeweiligen Krankenversicherung einreichen. Im Gegenzug erhalten die Patient:innen 80% der Honorarkosten, welche die Kasse an ihre unter Vertrag stehenden Ärzte auszahlen würde.
Klingt kompliziert, ist aber in Summe recht einfach:
angenommen ich gehe ich zu einem Arzt mit Kassenvertrag, bekommt dieser für eine Behandlung 10,– direkt von der Krankenversicherung. Die komplett gleiche Leistung bei einem Wahlarzt würde dann mit 8,– (weil 80% des Kassen-Honorars) mit der Patient:in abgerechnet, egal wie hoch die Honorarforderung der Wahlärztin oder des Wahlarztes ist. Und meistens verlangen Wahlärzt:innen deutlich mehr als sie bei einem Kassenvertrag von der Kasse direkt bekommen würden.
Warum also gehe ich zu einer Wahlärztin oder einem Wahlarzt, wenn ich doch viel weniger zurückerstattet bekomme, das Geld davor auch noch selbst auslegen muss? Ganz einfach: weil es immer weniger Ärzt:innen gibt, die sich noch einen Kassenvertrag nehmen. Warum das wiederum? Auch hier gibt es verschiedenste Gründe, wie mir die Gespräche mit Mediziner:innen in den letzten 2 Jahren gezeigt haben, und wie sich auch bei meiner eingangs erwähnten Tour d´Autriche gezeigt hat. Zum einen ist das Abrechnungsprozedere mit der Kasse bürokratisch und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Jede Handlung, Diagnose, jeder Handgriff muss dokumentiert und belegt werden. Das Leistungszentrum ist bis in das kleinste Detail definiert. Wenn ich also einen Patienten behandle, dann kann es passieren, dass ich für jeden Handgriff in diesen 5 Minuten eine eigene Abrechnungsposition habe, die ich angeben muss, um an mein Honorar als Arzt zu kommen. Dazu kommt, dass die Honorierung kaufmännisch gesehen Menge und Masse bevorzugt, und weniger auf Qualität in der Arzt-Patient:innen-Beziehung baut. Dass es heute so ist, ist aber nicht einer der Vertragsseiten allein zuzuschreiben, sondern fußt wohl eher in der seit Jahren verfahrenen Situation, die keinen Neustart bei diesen Modalitäten zulässt. Zudem sind jahrzehntelang die Honorare bundesländerweise zwischen den lokalen Gebietskrankenkassen und Ärztekammern verhandelt worden. Wenn also eine Kammer etwas erreicht hat, haben die anderen Länder versucht das auch zu erreichen, oder haben sich mit anderen Ausgleichen zufriedengegeben. Die Zusammenlegung der ÖGK hätte hier vereinfachen sollen, aber…
Ein anderer Grund, der immer wieder kolportiert wird, ist ein recht profaner: immer mehr Ärzt:innen wollen so etwas wie Lebensqualität haben. Es ist nicht mehr das Lebensziel 24/7 Halbgott in Weiß zu sein, und an der Billakasse die Patient:innen nicht nur freundlich zu grüßen, sondern auch am besten noch zu behandeln. Es gibt nicht wenige Ärzt:innen, die lieber weniger arbeiten wollen und nur eine halbe Stelle gerne annehmen würden, oder sich eine Stelle mit jemanden teilen möchten. Dazu gibt übrigens eine Studie aus dem Jahr 2017 recht gut Einblick. Diese ist auf der Website der MedUni Graz nachzulesen.
Und noch etwas gibt es: die oben erwähnte Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen, die beim erwähnten aktuellen Vertragswesen unter die Räder kommt. Bei meiner Tour durch die Länder hat mir ein Arzt erzählt, dass er versucht sich für jede Patientin und jeden Patienten, der einen Termin bei ihm hat, zumindest 15min Zeit zu nehmen. Das ist am Ende des Tages ein Verlustgeschäft, weil es die für einen sinnvollen kaufmännischen Erfolg nötigen Steckungen nicht zulässt. Das muss dann eben mit Akutpatient:innen kompensiert werden. Es gibt wohl noch viele weitere Gründe, auch die Frage der Höhe der Honorare ist sicherlich ein Thema. Warum gewisse Fachärzt:innen ein Zigfaches dessen was andere Ärzt:innen verdienen, ist wohl auch hinterfragenswert. Der Rechnungshof hat das vor gar nicht so langer Zeit zuletzt wieder thematisiert, wie in einem eigenen RH-Bericht nachzulesen ist.
Was würde es also bringen, wenn es keine anerkannten Wahlärzt:innen mehr gibt? Gar nichts, denn die bisher als Wahlärzt:innen arbeitenden Mediziner:innen würden dann eben Privatärzt:innen sein, die Honorare wären dennoch gleich wie zuvor, und würden dann auch nicht einmal mehr zum Teil refundiert werden, außer man hat eine Privatversicherung, die das übernimmt. Die aber haben wiederum nur Leute, die es sich leisten können. Womit wir eine Auswirkung auf all jene haben, die von vornherein am meisten von den fehlenden Kassenärzt:innen betroffen sind. Wie so etwas mit der an sich vorgeblichen sozialdemokratischen Haltung von Andreas Huss einher geht, weiß ich auch nicht.
Somit ist die Frage der Kassenverträge und der Wahlärzt:innen deutlich komplexer als es den Anschein hat. Und genauso muss auch bedacht werden, dass daher nicht wenige (aber sicher nicht alle) Wahlärzt:innen versorgungsrelevant sind. Ja, es gibt genügend, die eine Wahlarztpraxis neben ihrem Job in einem Krankenhaus machen, und nicht allein von ihrer Praxis leben. Auch das ist ein Aspekt, den es zu bedenken gilt.
Bringt also die Abschaffung des Wahlarztsystems dann irgendwas? Wobei: Abschaffung bedeutet ja nur, dass die Refundierung der Honorarnoten (also die oben erwähnten 80%) nicht mehr gemacht wird. Nein, es würde wohl keinen einzigen Arzt und keine einzige Ärztin dazu bringen, sich um einen der vakanten Kassenplätze zu bewerben. Das ist aber die einzig entscheidende und relevante Frage in der ganzen Sache: was bringt mehr Ärzt:innen wieder dazu sich einen Kassenvertrag zu nehmen? Das Abschaffen der Wahlärzt:innen sicher nicht. Wenn wir also mehr Ärzt:innen in Kassenverträge haben wollen (und das ist das einzige Ziel, das es geben darf), dann müssen sich Ärztekammer und ÖGK bzw. die anderen Sozial- und Krankenversicherungen gemeinsam der Realität stellen. Es hat keinen Sinn etwas abschaffen zu wollen, und auf der anderen Seite keinen Plan B zu haben, um das Abgeschaffte zu kompensieren. Schon gar nicht, wenn es um unsere Gesundheit geht. Aber dazu gehören wie gesagt beide Parteien an den Tisch. Das gegenseitige Mißtrauen, welches für die heutige Situation verantwortlich ist, muss genauso überwunden werden, wie die ständigen Besitzstandswahrungen, die als “Interessenvertretung” fälschlicherweise tituliert wird. Es braucht wo sinnvoll mehr Primärversorgungszentren, es braucht ein modernes Vertragswesen, wo sich Ärzt:innen Stellen teile können, es braucht ein Vertragswesen, das auf die Beziehung zwischen Mediziner:innen und Patient:innen einzahlt, und es braucht ein Vertragswesen, dessen einzige Messlatte die flächendeckende gute Versorgung der Patient:innen ist (und nicht ob der Bürgermeister von Kickeritspatschen zufrieden ist).
Warum macht also dann der Vize-Obmann der ÖGK solch einen Vorschlag? Nun, ich kann hier nur raten (denn mit der Politik ist der Vorschlag natürlich nicht abgestimmt, maximal mit seiner Partei der SPÖ, und selbst da frage ich mich ernsthaft was diese davon hält), und muss davon ausgehen, dass es darum geht sich eben in Szene setzen zu wollen. Einfache Antworten auf komplexe Fragen funktioniert aber nicht. Ein anderer Gedanke, der mir gekommen ist: von der eigenen Verantwortung in der immer virulenter werdenden Frage nach den fehlenden Kassenärzt:innen im System ablenken. Die aktuelle Situation ist nicht vom Himmel gefallen, und ist auch nicht in den Systemänderungen der letzten Jahre begraben. Es ist schon auch eine entsprechende Verantwortung bei den aktuell agierenden Personen und deren Arbeit der letzten Jahre und Jahrzehnte zu suchen. Aber mit so einem Vorschlag kann man ganz schnell von der eigenen Verantwortung ablenken. Zumindest ist es ein Versuch, ein durchschaubarer und vor allem gescheiterter.
Abschließend: nur für den Fall, dass jemand glaubt, ich gebe in der Causa nur der ÖGK die Schuld an den immer weniger werdenden Kassenärzt:innen. Nein, im Gegenteil sehe ich auch einen Teil der Verantwortung natürlich bei der ÖÄK (Österreichische Ärztekammer) und den Landeskammern, genauso bei der Politik. Dass das Honorierungssystem heute ein gordischer Knoten ist, ist allen Stakeholdern in der Sache geschuldet. Es wäre daher Zeit das System zu ändern und den Knoten zu durchtrennen. Aber dann bitte mit Hirn, und analog zu guten internationalen Beispielen, und nicht indem man „Haltet den Dieb!“ schreit, um von der eigenen Verantwortung abzulenken.
Übrigens: der Kurier berichtet heute (09.04.2022) in einem Artikel auch dazu, meine Ansichten kommen da auch etwas kurz aber doch vor. Den Artikel habe ich gerne HIER verlinkt. Aktuell ist dieser leider hinter einer Bezahlschranke.
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